Was erzählt uns Corona? – Zur Bedeutung von Narrativen in Krisenzeiten
Von der Krise als Chance bis hin zur Maskenpflicht als Wegbereiter der Meinungsdiktatur – die COVID-19-Pandemie zeigt eindrucksvoll, wie stark sich Erzählungen und Erzählmuster in Ausnahmesituationen wie diesen voneinander unterscheiden können und welchen Einfluss sie auf die Wahrnehmung unserer Umwelt haben. Zwischen Hygienedemos, Reisewarnungen und Solidaritätsbekundungen ist in diesem Zusammenhang immer häufiger die Rede vom sogenannten Kampf der Narrative. Doch was bedeutet der Begriff Narrativ eigentlich? Warum hat er sowohl in Politik als auch Wissenschaft einen regelrechten Hype ausgelöst? Und warum gewinnt das Finden neuer Narrative im Rahmen der Corona-Krise zunehmend an Bedeutung?
Mehr als nur Geschichten
Bei Narrativen handelt es sich um kollektive Erzählungen, die meist innerhalb eines Kulturkreises getragen werden. Sie beziehen sich häufig auf vergangene Erfahrungen einer Gemeinschaft, wirken jedoch ebenso sinnstiftend für die Gegenwart und Zukunft ihrer Mitglieder. Das wohl bekannteste Narrativ unserer westlichen Welt stellt wahrscheinlich der sogenannte American Dream dar, also das Versprechen, dass jeder die Möglichkeit hat, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Eine Erzählung, die nach wie vor zahlreiche Amerikaner dazu motiviert, hart zu arbeiten und für ihren Traum zu kämpfen.
Narrative sind dabei jedoch mehr als nur Geschichten. Sie können nicht einfach so erfunden werden, sondern verfestigen sich im Rahmen permanenter gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Sie haben in der Regel sehr starken Einfluss darauf, wie wir bestimmte Situationen und Entwicklungen, beispielsweise im wirtschaftlichen oder politischen Bereich, bewerten und wahrnehmen. Es wundert daher nicht, dass die bewusste Auseinandersetzung mit Narrativen sowohl für Parteien als auch Unternehmen zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Sinnstiftung über die Krise hinaus
Welchen Einfluss Narrative auf das soziale Miteinander innerhalb einer Gesellschaft haben können, wird selten so deutlich wie in Krisenzeiten: Corona bestätigt das. Während viele Demonstranten in Berlin und Stuttgart die Pandemie als direkten Weg in den Überwachungsstaat wahrnehmen, ist sie für andere der endgültige Abgesang auf den Kapitalismus, unser ewiges Streben nach Wachstum und der Beginn einer sozialeren Gesellschaft. Ein anderes Beispiel sind die Bilder von Menschen, die auf ihren Balkonen den Pflegekräften und Ärzten für ihren unermüdlichen Einsatz applaudieren. Das Corona-Narrativ ist hier ein anders. Es steht für eine Welle der Solidarität und für ein Zusammenwachsen in einer individualisierten Gesellschaft.
Diese Narrative haben eines gemeinsam: Sie weisen in die Zukuft und wollen Orientierung bieten. Im besten Fall können Narrative einer Gesellschaft wichtige Werte und Normen vermitteln. Allerdings besteht die Gefahr – wie man in der jetzigen Pandemie deutlich sieht – dass Narrative auch dazu genutzt werden können, Unwahrheiten vor allem auch über die sozialen Medien zu verbreiten. Noch ist es schwer abzusehen, welches Narrativ der Pandemie sich durchsetzen wird.
Vor allem die Gesundheitsbranche – und hier in erster Linie die Krankenhäuser – sollten verstärkt von der Pandemie aus Sicht ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie ihrer Patientinnen und Patienten berichten. Auf diese Weise bauen sie Vertrauen auf, gewinnen an Glaubwürdigkeit und stiften im wahrsten Sinne des Wortes Sinn, der sich auch über die Krise hinaus positiv bemerkbar machen wird.
Einen Kommentar schreiben
Kommentar von Christopher Seidel |
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen